Wenn die Führungskraft eines "agilen Teams" zum "Flaschenhals" geworden ist, kann irgendetwas nicht stimmen.
Setzt ein großes Finanzunternehmen ein "agiles Projekt" mit rund 100 Teammitgliedern auf, inklusive einem Scrum Master und vier Projektleitern, unter denen Produkt- und technische Teamleiter die in funktionale Fähigkeiten getrennten Kollegen organisieren sollen - dann wird mir fast schon schwindelig.
Will eine Organisation in der Beratungsbranche, die von zahlreichen deutschen und europäischen Standorten aus agiert, mit zentraler Jahresplanung und mit Auslastungszielen erfolgreich sein - ist dann alles im Lot?
Und fließen Unsummen, um Mitarbeiter in agilen Schulungen mit bunten Steinchen die echte Welt nachspielen zu lassen, dann mutet das in meinen Augen mittlerweile fast befremdlich an. Weil dürfen wir anschließend nicht ziemlich oft feststellen: es hat sich zwar so einiges geändert, aber ein besseres Ergebnis und mehr Zufriedenheit hat uns das nicht gebracht. Da kann doch etwas nicht stimmen?!?
Ich bin immer wieder erschüttert darüber, wie viele Organisationen noch an den Management- und Steuerungspraktiken aus einer Zeit hängen, die mit unserer heutigen einfach nicht mehr viel zu tun hat. Und so schlicht übersehen, wie viel Potenzial und finanzielle Mittel ihnen damit flöten gehen! Denn würden sich die Verantwortlichen ernsthaft mit Systemen und ihren Dynamiken auseinander setzen und damit, wie sich Gesellschaften, Technologien, Ausbildungen et cetera, und damit auch der Mensch im vergangenen Jahrhundert verändert haben, dann stünden wir doch heute nicht mehr hier. Oder? Was ist das Problem? Woran hapert es denn?
Mein stänkeriger Ton mag mir bitte verziehen werden, aber es regt mich nun mal wirklich ein bisschen auf! In welcher Zeit leben wir denn? Haben wir uns noch nicht ausreichend mit steigender Komplexität beschäftigt? Und damit meine ich jetzt wirklich nicht das Einsortieren von Arbeitstypen ins Cynefin-Framework. Haben wir uns noch nicht genügend damit auseinander gesetzt, wie Wertschöpfung im Zeitalter des Wissens funktioniert und welche persönlichen Motivationsmuster sich heute zeigen? Mir mag kein anderer Grund einfallen - doch, Moment! Aber auf den komme ich später zu sprechen.
Ein Mangel an Auseinandersetzungsstoff ist nicht zu beklagen: Buurtzorg zum Beispiel, ein niederländischer Pflegedienstleister, ist eines von vielen Unternehmen, das mit radikal dezentral und sich selbst organisierenden Team-Einheiten, mit äußerst zufriedenen Mitarbeiter*innen und glücklichen Kund*innen auffällt (1). Auf erfolgreichem Expansionskurs und immer agierend nach dem Grundsatz "Menschlichkeit vor Bürokratie" zeigt diese spannende Organisation, dass sich echte Wertschöpfung, Humanismus und wirtschaftlicher Erfolg nicht ausschließen. So kommen die mittlerweile rund 15.000 Buurtzorg-Kollegen zum Beispiel mit 40 Prozent weniger Kosten im Vergleich zu Wettbewerbern aus.
Zahlreiche weitere Beispiele sind in Werken moderner Businessliteratur zu finden; hier sei beispielsweise Niels Pflägings "Führen mit flexiblen Zielen" genannt - für mich ein wahrer Fundus an Ausführungen zu den Organisationen, die im 21. Jahrhundert vergleichsweise besonders erfolgreich sind.
Und jetzt kommt's: Es gibt sie, die Muster, die alle diese Organisationen vereinen! Die sind ganz allgemein und völlig unabhängig vom individuellen System formulierbar. Da drängt sich doch der Gedanke auf, die könnten etwas mit besagtem Erfolg zu tun haben. Der Blick in diese Muster - knackig formuliert im sogenannten Beta-Kodex - lässt nicht nur erahnen, dass sich hier der Paradigmenwechsel abbildet, der mindestens seit dem Aufkommen der agilen Bewegung gefordert wird und in der Unternehmensführung heute mehr denn je unausweichlich ist.
Denn alle schreien doch nach den selbstständigen Mitarbeitern, die "in Eigenverantwortung" agieren und sich in ihren Teams zum "Performing" hinarbeiten, am besten mit Scrum oder Kanban, weil damit geht's doch schneller und besser! Oder, noch schlimmer, "agil" wird für tot erklärt, weil das ganze Methodentheater nicht weiter bringt. Nur wie denn auch, wenn steigende Komplexität teils ausschließlich mit agiler Teamarbeit begegnet werden soll? Und auch wenn die Personal- und die Marketing-Abteilungen ihre Arbeit jetzt ebenfalls auf bunten Zetteln an der Wand organisieren, wird das dem gesamten Unternehmen wenig nützen.
Der Beta-Kodex schließt diese Lücke.
Oder um es mit Niels Pflägings Worten zu sagen "Mit/in Beta macht Agile Spass." Knackig formuliert in zwölf Prinzipien finden sich hier DIE Muster der erfolgreichen Unternehmen, in denen Mitarbeiter selbstorganisiert, füreinander-miteinander Wert schöpfen. Beta-Organisationen entwickeln Produkte für ihre Kunden oder reichen ihnen Dienstleistungen dar, die wirklich wertvoll für deren Weiterkommen, für deren Leben, für deren Wertschöpfungsvorhaben sind. Sie arbeiten kontinuierlich an der Verbesserung ihrer Angebote im Sinne ihrer Kunden und unter ständiger Orientierung am Markt. (2)
Na ja, und wenn man jetzt wissen will, wie die eigene Organisation genau dahin kommt, muss man eigentlich auch nicht mehr allzu tief stöbern. Aber bitte mit Obacht: Agile Transitionen, Piloten und Graßwurzelbewegungen mögen attraktiv erscheinen, aber ihre allseits bekannten Misserfolge sollten zum intensiven Nachdenken vorm Handeln anregen. Denn Agilität in klassischen Organisationen auf Teamebene einzuführen, bringt bekanntlich „einen Haufen Probleme“ und schmerzhafte Inkonsistenzen mit sich, so erläutert es auch Peter Pröll im Interview mit „Daily of the Month“.
Der Hebel ist vielmehr Konsequenz, wenn "Business Agility", also Selbstorganisation auf allen Ebenen gefordert ist. Dafür wesentlich sind aus meiner Sicht folgende Aspekte:
- das Erkennen der Muster erfolgreicher Akteure (umschauen, lesen, hören, stöbern) und anschließend ausgiebige Bewusstseinsarbeit: Was bedeutet das für uns?
- Zu begreifen und zu akzeptieren, dass die "Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung" Ergebnisse wertvoller Studien des anfänglichen 20. Jahrhunderts sind und damit heute absolut ungeeignet für Mensch und Organisation. Zentrale Steuerung, Jahresplanung und Ressourcenallokation sind sowas von vorgestern (3). Durch Bürokratie und Machthierarchien behindern sie Wertschöpfung in komplexen Systemen und saugen an unserer Energie - das wissen wir alle!
- der Blick nach außen (zum Markt), statt nach innen (zu den Autoritäten innerhalb der Organisation) und wenige, relative Ziele (siehe workthesystem.eu/relative-targets)
- Einladung zur Arbeit am System - "Work with the willing": nicht Appelle motivieren, sich aktiv an Veränderungen zu beteiligen. Nur gut vorbereitete und engagiert formulierte Einladungen haben die Chance, einen wirklich überwältigenden Prozess in Gang zu setzen.
- Autorisierung zur Systemarbeit: Nicht die Menschen sind das Problem, unsere Systeme sind es! Erlauben Sie Anpassungen durch alle. Und lassen ausgiebig Organisationshygiene betreiben (Entscheiden Sie noch oder arbeiten Sie schon an der Organisationshygiene? LinkedIn-Artikel von Niels Pfläging): Was bedeutet es, wenn wir nach den 12 Prinzipien für zeitgemäße Führung agieren wollen? Welche Strukturen und Praktiken behindern uns dabei? Was darf einfach weg?
- Timeboxing - klare Zeiträume abstecken, in denen am System gearbeitet wird. Gute Vor- und Nachbereitung sind essenziell (siehe auch "Gemeinsam und freiwillig").
- Starten eines Plan-Do-Check-Act-Zyklus auf Organisationsebene - will ein Unternehmen wirklich agil sein, dann ist das aus meiner Sicht der konsequenteste Schritt - logisch. Für initiierende Vorhaben ist OpenSpace Beta DAS "Mittel der Wahl". Anschließend sind beispielsweise die Learning Circles (ebenfalls) von red42 oder zeitlich abgespeckte Open-Space-Events ideal, um gemeinsam zu reflektieren und organisationsweit zu lernen.
Den Artikel "Zehn Erfolgskriterien für die Unternehmenstransformation" von Peter Pröll kann ich ergänzend jedem empfehlen, der diese und weitere Aspekte näher beleuchten möchte.
Ach ja, einen Punkt wollte ich ja noch ansprechen. Doch jetzt einen Bogen zum sogenannten "Menschenbild" zu schlagen, erscheint mir doch zu sperrig. Das spare ich mir für einen meiner nächsten Beiträge auf. Folgende Fragen gebe ich schon mal zu bedenken: Welche Rolle spielt wohl unsere persönliche Sicht auf Menschen, wenn wir im Organisationskontext unterwegs sind? Und ist es wirklich das heute gefühlt überall geforderte "Vertrauen" (in uns gegenseitig, von Teammitgliedern untereinander, von Führungskräften in Teams und umgekehrt), das DIE essenzielle Zutat für Zusammenarbeit/Wertschöpfung/Agilität/"you name it" ist?
Sich diesen Gedanken und der Frage ausgiebig zu widmen, was die zwölf Prinzipien des Beta-Kodex für die eigene Organisation bedeuten (können), bringt ungeahnte Einsichten mit sich. Versprochen! Melden Sie sich bei mir und lassen Sie uns gemeinsam nachdenken - wir können Großes bewirken.
(1) Quellen zu Buurtzorg (zuletzt aufgerufen am 13. Mai 2020):
- Elisabeth Sechsers Podcastfolge #5 "Menschlichkeit vor Bürokratie"
- Ein LinkedIn-Artikel von Dorothee Töreki "Über den Visionär Jos de Blok" (Und diese Geschichte ist meiner Ansicht nach nicht "fast zu schön, um wahr zu sein", wie es die Autorin formuliert. Vielmehr zeigt sie aus meiner Sicht, wie viel Spaß es machen kann und wie einfach es ist, wirklichen Wert in die Welt zu bringen.)
- Einblicke in das großartige Unternehmen Buurtzorg während der Corona-Krise - wirklich beeindruckend im Interview mit Jos de Blok herausgestellt: "Behind The Masks: How A Consortium Of Dutch Nurses Is Redefining Care In Times Of Crisis" (Forbes.com)
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